Referenzen

Seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten beschäftige ich mich mit Familiengeschichten und den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart. Vier Generationen sind untrennbar miteinander verbunden, ob es ihnen passt oder nicht. Das haben vor 2500 Jahren schon die Weisen der Hebräischen Bibel gewusst, das bestätigen heute Psychologen, Erinnerungs- und Gedächtnisforscher. Auch die Genforschung weist immer klarer auf, dass vergangene – und offensichtlich verdrängte oder vergessen geglaubte – Ereignisse ihre Spuren in der Genen der gegenwärtigen Generation hinterlassen. Das ist ebenfalls nichts Neues: „Das steckt der/dem in den Knochen“, weiß schon der Volksmund.

Bei meinen Recherchen habe ich ungezählte Familiengeschichten gehört. Viele waren tragisch und traurig, wenige hatten ein Happy End. Zu den außergewöhnlichsten zählt zweifelsohne die von Anemone Rüger. Nichts deutete darauf hin, dass Anemone eines Tages, über viele Jahre hinweg, die halbe Erde bereisen würde, um das Rätsel zu lösen, das ihr Großvater ihr – unbewusst – aufgetragen hatte. Geboren und aufgewachsen in einer christlichen Familie in einem Dorf unweit von Chemnitz, war ihr bis 1989 der Weg durch Mauer und Stacheldraht versperrt. Doch nach der friedlichen Revolution stand ihr die Welt offen – und sie nutzte die neuen Möglichkeiten. Es zog sie aber nicht nach Mallorca oder Italien, sondern nach Israel ...

Anemone Rügers Geschichte ist eine mit Happy End. Und sie ist eine Geschichte, die Mut macht: Mut dazu, niemals aufzugeben, auch wenn die Hindernisse noch so unüberwindbar erscheinen; Mut, sich auch den Abgründen des Lebens und der Weltgeschichte zu stellen; Mut, sich dem Leben und den Menschen zu öffnen, Mut zur Erinnerung. Dann wächst Versöhnung, dann geschieht so etwas wie Heilung: Über Religionsgrenzen hinweg – und auch weit über vier Generationen hinaus. Anemone Rügers Geschichte ist ein Beispiel dafür, dass der vielzitierte und dem Baal Shem Tov zugeschriebene Spruch seine Gültigkeit hat: „Das Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.“ Es ist dem Buch zu wünschen, dass es viele Leserinnen und Leser aus dem Exil des Vergessens herausführt in ein Land der versöhnten Erinnerung.
Uwe von Seltmann
Schriftsteller, Journalist, Filmemacher